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"Habe ich einen Konflikt oder hat der Konflikt mich?"

Diese Fragestellung ist nicht nur ein Wortspiel, sondern eine Kernfrage in Bezug auf die Eskalationsstufe eines Konflikts. "Der Konflikt hat mich" besagt, dass ich meine Selbstkontrolle und Selbstführung verloren habe. Der Konflikt lässt mich nicht mehr los und ich agiere wie fremdgesteuert. Die Wahrnehmung hat sich verzerrt, ich muss andauernd an den Konflikt denken und kann nicht mehr abschalten. Ich fühle mich wütend und ohnmächtig zugleich.

Eskalierende Konflikte gehen immer mit Veränderungen in den seelischen Funktionen eines Menschen einher:

1. Veränderung in der Wahrnehmung: Die am Konflikt beteiligten Personen entwickeln ein zunehmend voneinander abweichendes Bild der Wirklichkeit. Die Unterschiedlichkeit dieser Bilder führt wiederum zu einer Verstärkung der Aggressionen und zu weiteren Angriffen. Die Wahrnehmung wird immer selektiver und fokussiert sich auf Bedrohliches, Störendes und Verletzendes.

2. Veränderungen im Erinnern, Denken und Interpretieren: Im Denken treten mehr und mehr Vereinfachungen und Pauschalisierungen auf. Es entstehen Schwarz-Weiß-Bilder. Wenn die Konfliktparteien von der Entstehung des Konfliktes erzählen, weichen diese Erzählungen weit voneinander ab. Die einseitigen Bilder setzen sich fest, führen zu Vorurteilen und beeinflussen die Interpretation des laufenden Geschehens. Ein jüdisches Sprichwort bringt dies treffend zum Ausdruck: "Was sich einer denkt beim Hören, lässt sich von keiner Wahrheit stören!"

3. Veränderungen im Gefühlsleben: Anfänglich tritt eine erhöhte Empfindlichkeit auf, die beginnendes Misstrauen nährt: Werde ich hereingelegt? Bin ich zu gutmütig? Führt der Andere Böses im Schilde?" Das Misstrauen führt zu Rückzug und bewirkt einen emotionalen Panzer, d.h. die Gefühle für den Anderen werden immer negativer. Mit dem Wachsen des Panzers geht das Einfühlungsvermögen und somit die Verbindung zum Anderen verloren. Es entsteht Intoleranz, Selbstgerechtigkeit und Feindschaft.

4. Veränderungen im Willensleben: Der Wille engt sich auf wenige Handlungsmöglichkeiten ein, wird absolut und radikal. Zu Beginn des Konflikts bestanden noch Alternativen im Wollen und Handeln, jetzt gilt "Auge um Auge, Zahn um Zahn!". Und je länger die Auseinandersetzung dauert, desto mehr werden die tieferen, unbewussten Schichten des Willenslebens aktiviert. Triebe und Instinkte übernehmen die Handlungsmacht, wodurch es zu mehr Gewalthandlungen kommt, weil im unbewussten Triebleben bei allen Menschen zerstörerische Kräfte schlummern.

Wenn ich wahrnehme, dass der Konflikt mich hat und nicht ich einen Konflikt, dann ist es höchste Zeit zu Versuchen mit Hilfe von Dritten (Freunden, Kollegen, Professionellen) eine Konfliktregualtion herbeizuführen. Ja nach Eskalationsstufe und Konfliktart gibt es unterschiedliche Schritte und Methoden, wie man aus der Konfliktdynamik wieder herausfinden kann. Häufig bleiben am Ende unterschiedliche Sichtweisen bestehen, aber das (selbst-)destruktive Verhalten hat aufgehört.

Literaturempfehlung: "Selbsthilfe in Konflikten", Friedrich Glasl, Stuttgart 2008